Sehr oft beschäftige ich mich mit den Möglichkeiten der Welt. Für mich ist Vieles so interessant und will erkundet werden. Ich stelle fest, dass ich oft weggehe und mich ziehen lasse zu neuen Erkundungen, neuen Orten, neuen Menschen und neuen Möglichkeiten. Ich frage mich: Liegt das an mir, oder ist das ein Zeichen der Zeit und der Optionen, die es gibt? Es gibt so vieles, was ich noch nicht weiß, mich jedoch interessiert, so viele zu entdeckende Orte, die ich gerne entdecken würde, so viele Aktivitäten, die mich in Gedanken begeistern. Gleichzeitig habe ich schon so viel Erfahrung, Erlebnis, Wissen und Lebensmomente gesammelt. Diese machen mich reich. Diese lassen mich meinen Blick auf mich und die Welt immer wieder aus einem weiteren und neuen Blick sehen. Das finde ich spannend, Neues in mein Leben lassen inspiriert mich und fällt mir leicht.
So kam auch der Begriff der Bleibefreiheit zu mir. Er ist neu für mich. Eva von Redecker hat diesen in ihrem gleichnamigen Buch entwickelt. Dieses habe ich noch nicht gelesen, sondern nur ein paar Vorträge von ihr online gehört. Er beschäftigt mich, denn wo “bleibe” ich, bei was “bleibe” ich, und ist dieses freiheitliche Bleiben vielleicht sogar genau das fehlende Puzzlestück, nach dem ich suche? Denn im Weggehen verliere ich meinen Fokus. Alles scheint gleichzeitig lukrativ und interessant und es bleibt eine Sehnsucht nach Wirksamkeit und in Verbindung zu sein in mir. Es ploppen Fragen bei mir auf. Verliere ich mich im Weggehen? Brauche ich vielleicht eine Entscheidung, zu bleiben, um mich zu entspannen, um genau die Dinge umzusetzen, die ich entwickeln und umsetzen möchte? Auf was verzichte ich beim Bleiben?
Mir fällt dazu sofort eine sehr persönliche Entscheidung des “Bleibens” ein. Diese hat mit meiner Beziehung zu tun. Seit 2006 lebe ich in einer sich immer weiterentwickelnden Partnerschaft. Ich bin verheiratet und habe mich entschieden, zu bleiben. Die Idee der Heirat kam wohl eher aus einem romantischen Blick heraus und einem anderen rechtlichen Status, den ich als verheiratete Person meinem Lebenspartner gegenüber einnehme. Ich fand diese Heiratsentscheidung zwischenzeitlich sogar hemmend, in Bezug auf meine Bleibefreiheit, da ich mich lieber aus freien Stücken regelmäßig entscheiden wollte, zu bleiben, und hatte überlegt, mich zu “entheiraten” um dann zu bleiben. Das spielt mittlerweile keine so große Rolle mehr für mich, da ich mich nun eben verheiratet entscheide zu bleiben. Und dennoch scheint mir die Kraft des Bleibens größer, wenn ich leichter gehen kann. Was ich über diese lange Zeit jedoch spüre, ist eine sehr große Entspannung in meinem Lebensbereich Beziehung. Das beieinander “Bleiben” und die Entscheidung dafür stellt unser Miteinander nicht ständig in Frage, sondern gibt Raum für Entwicklung. Ich darf mich genauso entwickeln wie mein Lebenspartner, und wir werfen gemeinsam den Fokus auf das, was wir für unser beieinander „Bleiben” brauchen. Das hört sich jetzt nach einem Idealzustand an. Tatsächlich ist das auch anstrengend. Denn wir bleiben im Konflikt und Ringen miteinander, übertragen unsere Themen, lassen uns hinreisen zu endlosen Diskussionen. Und doch liegen im Bleiben die Kraft und aufrichtige Schönheit der sich entwickelnden Lebensliebesbeziehung.
Wenn ich das nun auf andere Lebensbereiche übertrage, könnte es bedeuten, dass ich einfach mal an dem Ort wohnen bleibe, an dem ich bin. Und nicht ständig darüber nachdenke, doch wieder woanders hingehen zu können. Die Wohnungssuchagenten abzuschalten und mich fürs Hiersein zu entscheiden. Mich in diese Entscheidung hineinzuentspannen und zu schauen, was sich daraus entwickeln will.
Eine weitere Frage drängt in den Vordergrund. Führt das Bleiben zu mehr Achtsamkeit im Moment. So ähnlich, wie ich das zunehmend durch meine gestalttherapeutische Ausbildung übe und erfahre. Bleibe ich im Moment, dann bin ich präsent für das Augenblickliche. Das ist ein Gedanke, dem ich noch weiter folgen werde.
Jedenfalls bin ich Eva von Redecker jetzt schon dankbar für das Wort, das so viel beinhaltet und mich, ohne das Buch gelesen zu haben, schon jetzt anregt, weiterzudenken. Morgen werde ich mit der Lektüre beginnen und bin schon sehr gespannt, was sich mir noch neben spannenden Interviews und Vorträgen zeigt.
Hier gehts zu Buch und Interview:
https://www.fischerverlage.de/buch/eva-von-redecker-bleibefreiheit-9783103974997